Hören, was ist
Journalismus ist ein Handwerk, das wir jetzt weiterentwickeln müssen, damit es morgen noch relevant ist.
Am 17.11.2021 durfte ich eine Keynote beim 4. Constructive Journalism Day von NRD Info und Hamburg Media School halten. Da ich öfter darauf angesprochen wurde, veröffentliche ich hier das Redemanuskript und freue mich über Kommentare.
Klimaangst
Die Hälfte aller Jugendlichen geht heute davon aus, dass die Menschheit unrettbar verloren ist. Das steht in einer neuen internationalen Studie, die Forscher der Universität Bath vor kurzem veröffentlicht haben. Die Hälfte aller Jugendlichen. Weltweit. Hält die Menschheit für verloren.
Wenn ich als Journalistin, aber auch als Mutter zweier Teenager so etwas höre, stelle ich mir schon die Frage, wie solche Werte zustande kommen. Könnte es sein, dass unsere Kinder die Informationen, die wir ihnen zur Verfügung stellen, todernst nehmen?
Es sind übrigens nicht nur die Jungen, die sich Sorgen machen: Im vergangenen Jahr haben Menschen weltweit 565% öfter das Wort “Klimaangst” gegoogelt als noch im Jahr 2020.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Klimajournalismus ist unfassbar wichtig und braucht noch eine viel stärkere Lobby in den Redaktionen. Und Klimajournalistinnen und -journalisten sollen selbstverständlich nicht auch nur ansatzweise die Folgen der Krise beschönigen oder gar verschweigen. Ich glaube nur, wir müssen uns bewusst machen, was passiert, wenn wir die Menschen permanent mit Katastrophennachrichten bombardieren: Anstatt sich gut informiert und vielleicht sogar gewappnet zu fühlen, macht das sehr vielen Menschen Angst. Es ist ihnen zu viel, es ist ihnen zu negativ — manche schlittern direkt von der Leugnung der Klimakrise in die Haltung „Jetzt kann man eh nichts mehr tun“ — also in Apathie und Hilflosigkeit.
Verängstigte und überforderte Menschen stehen unter Dauerstress und sind nicht in der Lage, kreativ über die Zukunft nachdenken, engagiert an ihr mitzuarbeiten, oder am öffentlichen Diskurs teilzunehmen. Gestresste Menschen neigen dazu, den Nachrichtenkonsum einzustellen oder mindestens zu reduzieren — weil sie in den Überbringern der schlechten Nachrichten den Quell ihres Unwohlseins ausmachen.
Ungefähr ein Drittel der Erwachsenen weltweit vermeidet mindestens hin und wieder den Nachrichtenkonsum. Und viele haben den traditionellen Medien ganz den Rücken gekehrt.
Sie alle hier haben wahrscheinlich jemanden im Freundeskreis oder in der Familie, der oder die von sich sagt: „Seit ich auf Nachrichten verzichte, geht es mir viel besser.“ Das wird im Einzelfall sogar stimmen, hat aber fatale gesellschaftliche Konsequenzen. Denn unsere Demokratie braucht informierte Bürgerinnen und Bürger.
Jetzt mögen Sie sich sagen: „Was soll’s?! Medienunternehmen sind kein Kurbetriebe. Journalistinnen und Journalisten müssen sich keine Gedanken darüber zu machen, warum Menschen ihre Informationsangebote nicht annehmen.“
Aber an dieser Stelle möchte ich Ihnen sagen: Doch — genau das ist unsere Aufgabe. Wir müssen uns Gedanken machen.
Nicht nur, weil wir in Sorge darum sein sollten, wie sich Journalismus künftig finanzieren lässt. Und nicht nur, weil wir uns — im Falle der Öffentlich-Rechtlichen — fragen sollten, wie dir den Auftrag erfüllen können, möglichst alle Menschen in unserer Gesellschaft mit Informationsangeboten anzusprechen.
Nein, es geht auch darum, dass wir einen Ruf verteidigen müssen. Nämlich den, als vierte Säule der Demokratie mit für den Zustand unserer demokratischen Gesellschaft verantwortlich zu sein. Eine Säule nämlich — die stützt und unterstützt die, die sich auf sie verlassen. Eine Säule der Demokratie dient dem Volke. Eine Säule steht fest und trägt ihren Teil zu unserer demokratischen Gesellschaft mit bei.
Verantwortung
In den Redaktionsalltag übersetzt heißt das: Wir müssen endlich Verantwortung für die Wirkung unseres Journalismus übernehmen. Wir können nicht schulterzuckend darauf reagieren, wenn Menschen den Nachrichtenkonsum vermeiden. Wir können nicht weitermachen, als folge die Art, wie wir Journalismus betreiben, einer Art Naturgesetz.
Wir Journalisten sind ja in der luxuriösen Position, jeden Tag völlig frei darüber entscheiden zu dürfen, über welche Themen wir berichten — und auf welche Weise wir das tun. Wir können zum Beispiel Konflikte absichtlich verstärken, oder wir können Menschen miteinander ins Gespräch bringen. Wir können uns auf die Probleme und Katastrophen dieser Welt fokussieren, oder wir können unseren Blick auch für mögliche Lösungen weiten. Wir können unsere Perspektive wie selbstverständlich für die sogenannte normale halten, oder wir können Vielfalt wertschätzen und sie neugierig suchen.
Sollten Sie jetzt als Journalistin oder Journalist der Meinung sein, dass Sie eine solche Verantwortung nicht tragen — dann möchte ich Ihnen in aller Deutlichkeit gerne sagen: In dem Fall sind Sie für mich kein Journalist, keine Journalistin, sondern ein Content-Producer.
Denn genau das ist für mich im Zeitalter der Digitalisierung ein entscheidendes Merkmal von Qualität: Wenn Journalistinnen und Journalisten Verantwortung für die Wirkung ihres Tuns übernehmen. Und dann, nur dann können sie sich mit Fug und recht als vierte Säule der Demokratie bezeichnen. Alles andere kann man machen: Inhalte produzieren, die Angst einflößen, die Polarisieren, die Hass oder sogar Falschinformationen verbreiten. Nur ist das dann eben kein Journalismus — sondern ein Geschäftsmodell.
Konstruktiver Journalismus
Der konstruktive Journalismus möchte nichts anderes als das: Einen Journalismus fördern, der gut für die Gesellschaft ist. Er ist keine Ideologie, er ist nicht unkritisch, man muss nicht an ihn glauben.
Konstruktiver Journalismus analysiert Lösungen genauso kritisch wie Probleme, er bemüht sich um Perspektivenreichtum und er entwickelt das journalistische Handwerk dahingehend weiter, dass er neben der in die Vergangenheit gerichteten Berichterstattung auch in die Zukunft gerichtete Debatten initiiert. Debatten, in denen möglichst viele Stimmen zu Wort kommen, die neben Schwarz und Weiß auch Grautöne aufzeigen und dadurch zu einem Mehrwert und Erkenntnisgewinn führen. Wenn Sie jetzt sagen: Ach so — dann ist konstruktiver Journalismus ja nichts anderes als guter Journalismus — dann geht es Ihnen so, wie mir: Konstruktiver Journalismus ist guter Journalismus für unsere Gesellschaft.
Studie
Nicht nur hier in Hamburg bei NDR Info — in ganz Deutschland gibt es schon sehr viel konstruktiven Journalismus — auch wenn er oft nicht so genannt wird, was ich überhaupt nicht schlimm finde. Denn es geht ja nicht darum, dem Journalismus zeitgeistige Labels aufzukleben.
Dabei ist mir aufgefallen, dass konstruktiver Journalismus in den meisten Häusern mit lösungsorientierter Berichterstattung gleichgesetzt wird — was auch vollkommen in Ordnung ist, weil der Fokus auf Probleme und Lösungen eben ein sehr wichtiger Bestandteil von konstruktivem Journalismus ist.
Lösungsorientierung
Im Rahmen meiner Recherchen sagte mir ein älterer Kollege: „Wir bringen jetzt immer drei relevante und einen konstruktiven Beitrag in unserer Sendung.“ Ich musste darüber sehr schmunzeln, weil es mir einerseits zeigte, dass in der Redaktion gerade ein Wandel stattfand und diese Äußerung andererseits ein wunderbares Beispiel dafür war, wie schwer sich viele Kolleginnen und Kollegen tun, ihren problemfokussierten Relevanzbegriff zu verändern.
Dabei müssten sie nur die Digitalteams fragen. Die stellen nämlich durchgängig fest, dass die allermeisten Menschen Lösungen für relevante Probleme mindestens ebenso interessant finden, wie die Probleme selber. Wer möchte nicht wissen, warum in Spanien so viel mehr Menschen gegen das Corona-Virus geimpft sind — ganz ohne Zwang? Warum die Arbeitslosigkeit in der Nachbarstadt so viel geringer oder die Plätze nachts sicherer sind? Was machen die anderen besser? Was können wir davon lernen? Warum werden Lösungen bei uns nicht umgesetzt, selbst wenn sie dem Stadtrat bekannt sind? Es geht nicht darum, Lösungen zu verkaufen, es geht darum, sie zur Diskussion zu stellen. Und glauben Sie mir: Lösungsorientierung kann sehr kritisch sein!
Meine Redaktionsgespräche haben ein ziemlich einheitliches Bild ergeben. Überall dort, wo Redaktionen lösungsorientiert berichten, sind sowohl Führungskräfte als auch Redakteurinnen und Redakteure der Meinung: Das lohnt sich.
Und zwar zum Einen für die Medien selber. Denn nicht nur schätzen Leserinnen, Zuschauer und -hörer eine lösungsorientierte Berichterstattung ganz ungemein — sie sind auch dafür bereit, in die Tasche zu greifen. So hat mir beispielsweise der Chefredakteur der Sächsischen Zeitung berichtet, dass sie dort dank Lösungsjournalismus mehr Abos verkaufen. Und wenn Sie mal drauf achten, werden Sie sehen, dass lösungsorientierte Artikel bei vielen Zeitungen auffallend oft hinter Bezahlschranken platziert werden — Weil man in den Redaktionen eben weiß, dass lösungsorientierte Artikel einen Mehrwert für die Menschen bieten. Oder schauen Sie sich die Auflagengewinne der ZEIT während der Pandemie an: Faktenbasiert, mit hohem Nutzwert für die Leserinnen und Leser und sehr, sehr oft lösungsorientiert — diese Strategie hat der ZEIT besonders in der Pandemie enormen Zulauf gebracht.
Ja, können Sie sagen — da geht es ja auch um ein elitäres Publikum. Kein Wunder, dass Zeit-Leser das gut finden — aber der ganz normale Zuschauer doch nicht.
Dazu möchte ich Folgendes sagen: Zum Einen — wer ist denn dieser angeblich normale Zuschauer, Hörer oder Leser? Den oder die gibt es doch in Wahrheit nicht. Es gibt eine riesige Vielzahl diverser Menschen in unserer Gesellschaft. Und Journalismus ist dazu da, ihnen allen relevante Informationsangebote zu machen.
Relevanz
Aber was ist Relevanz? Früher, da haben sich Chefredakteure hingestellt und gesagt: „Kein Problem. Ich weiß, was relevant ist.“ Heute reicht das nicht mehr. Denn Redaktionen haben ja kaum noch Informationsvorsprung. Und wir alle ertrinken geradezu in Informationen.
Um herauszufinden, was für unsere jeweiligen Nutzerinnen und Nutzer wirklich relevant ist, empfehle ich — zusätzlich zu digitalen Analysen, wo immer sie möglich sind — die Methode „Hören, was ist“.
„Hören was ist“ kennzeichnet Journalismus, der Gespräche führt und nicht O-Töne einsammelt. Um zu hören was ist, muss man das ehrliche Interesse haben, die Geschichten hinter den Meinungen erfahren. Wer zuhört, erfährt, was den Menschen wirklich wichtig ist, was sie bewegt und was sie von uns erfahren wollen. Wer zuhört, stellt fest, dass niemand ausschließlich gut oder böse ist, ausschließlich vernünftig oder verbohrt. Wer zuhört, dem begegnet Komplexität. Journalismus, der auf Zuhören basiert, wird nicht nur an Relevanz, sondern ganz sicher auch an Glaubwürdigkeit und Vertrauen gewinnen.
Perspektivenreichtum
Konstruktiver Journalismus fördert gezielt die Perspektivenvielfalt im Journalismus. Die kommt aber nicht alleine dadurch zustande, dass wir mehr über vermeidliche Minderheiten — zu denen ich auch junge Menschen zählen würde — berichten. Perspektivenvielfalt kommt dadurch zustande, dass mehr unterschiedliche Perspektiven mit in den Redaktionen sitzen! Es kann nicht sein, dass Journalismus ein kaum erreichbarer Job für Arbeiterkinder bleibt, weil Praktika nicht bezahlt werden und die Einstiegshürden mindestens ein Abitur, besser noch ein Auslandsstudium verlangen. Man muss sich mal vorstellen, dass in deutschen Redaktionen geschätzte 90 bis 95 Prozent Journalistinnen und Journalisten arbeiten, die keinerlei persönlichen Bezug zur Migrationsthematik haben. Natürlich halten sie andere Themen für relevant, als das Drittel der Bevölkerung, mit Migrationsgeschichten in der eigenen Familie.
„Mehr Vielfalt bringt neue Zielgruppen, neue Kundschaft und vor allem einen besseren, erfolgreicheren Journalismus,“ argumentiert der Verein Neue Deutsche Medienmacher:innen. Dem kann ich mich nur anschließen.
Konstruktive Debattenformate
Ich glaube auch, dass mehr Diversität in der Berichterstattung ganz neuen Schwung in journalistische Debatten bringen wird. Wohl kaum ein Format wurde in den vergangenen Monaten so heftig kritisiert, wie die politische Talkshow: Besetzt mit den immer gleichen Menschen, die im schlimmsten Fall zwar Prominenz, aber keinerlei nachgewiesene Expertise für das Thema mitbringen. Und moderiert von Journalisten, die ihren Erfolg scheinbar an der Höhe der von ihrer Sendung ausgelösten Empörungswelle auf Twitter messen.
Was ich mir wünsche, sind mehr konstruktive Debattenformate. Es war durchaus spürbar, dass während des Bundestagswahlkampfes einige Sender experimentiert haben: Mit einer stärkeren Einbindung des Publikums vor allem. Die Deutsche Welle zum Beispiel hat das Experiment gewagt, Politiker und Politikerinnen ins Publikum und junge Menschen in die Talkshow-Sessel zu setzen. Herausgekommen ist ein sehr interessanter Austausch — kein Schlag-Abtausch.
Wo bleiben die Journalisten, die sich trauen, in Talkshows nicht nur Unterschiede abzufragen, sondern Gemeinsamkeiten herausarbeiten? Gemeinsamkeiten, von denen aus eine konstruktive Debatte über Lösungen starten könnte, mit guten Ideen für die Zukunft? Ideen, deren Umsetzung von der Politik eingefordert werden könnten?!
Ist es naiv, mir zu wünschen, dass in Zukunft Formate entstehen, die den Fokus auf die gemeinsame Zukunft und den Weg dorthin setzen, statt auf die Differenzen und Probleme der Gegenwart?
Interessant wäre das allemal. Und relevant und verantwortungsbewusst auch. Sicher auch kritisch und konstruktiv. Und lösungsorientiert. Oder einfach nur: Richtig guter Journalismus.
Ich danke Ihnen!